Alte Brennerei
Was in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Bau des Gebäudes als Brennerei „hochprozentig“ begann, mit der Produktion von Pferdekutschen sowie der Autowerkstatt „hochmotorisiert“ fortgeführt wurde und mit der Wäscherei „hochgradig“ Anfang des 21. Jahrhunderts die Gewerbeproduktion beendete, nahm ab 2023 mit der Stadtbibliothek „Hochgeistiges“ auf und begründete damit eine möglichst langjährige neue Nutzungstradition.
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Als die Gebäude zur Branntweinherstellung im September 1854 abbrannten, errichtete ein Angehöriger der Familie Schnur später das Klinkergebäude zur Herstellung von Branntwein und Essig sowie als Likörfabrik. Diese, jetzt Großdestillation genannte Produktionsstätte, wird 1860 neu eröffnet und firmiert unter dem Namen »H. C. Schnur«, wobei H. C. für »HandelsCompanie« steht. Ein halbes Jahrhundert besteht das Unternehmen, bis ein neuer Besitzer das florierende Gewerbe an die Ecke Pritzwalker/Wilsnacker Straße in Kyritz verlegt. Der Stellmacher August Wietz erwirbt das Klosterareal und verlagert die vom Vater gegründete Stellmacherei mit Wagen- und Kutschenbetrieb auf den Standort. Nach der Sanierung soll das Gebäude als Bibliothek dienen und somit zu einem neuen kulturellen Mittelpunkt werden, den alle bald nutzen können.
Als im Zuge der Festsetzung eines Sanierungsgebiets in der Altstadt Kyritz die dazu notwendigen vorbereitenden Untersuchungen 1992 abgeschlossen wurden, war als wesentlicher funktionaler Missstand die auf dem ehemaligen Klostergelände bestehende Wäscherei und Vollreinigung identifiziert worden. Die in der DDR-Zeit vom VEB Dienstleistungskombinat betriebene Großwäscherei wurde von einem Berliner Unternehmer gekauft, der bereits einen Reinigungsbetrieb im ehemaligen West-Berlin betrieb. An eine Verlagerung des Betriebes – wie in den Vorbereitenden Untersuchungen ausgewiesen – war in den 1990er Jahren wegen befürchteter Arbeitsplatzverluste nicht zu denken. So wurden viele Jahre auf dem Standort nicht nur Textilien aus Kyritz und Umgebung, sondern auch schmutzige Wäsche aus Berlin gewaschen.
Der Reinigungs- und Wäschereibetrieb hat jedoch eine längere und facettenreichere gewerbliche Vorgeschichte. Nach der Reformation, die in Kyritz, wie auch in großen Teilen des heutigen Landes Brandenburg, erst 1539 mit dem Übertritt des damaligen Kurfürsten zum evangelischen Glauben – also mehr als zwei Jahrzehnte nach der Bekanntmachung der 95 Thesen im Jahr 1517 – in den Lebensalltag eingriff, führte ab 1541 zur Auflösung des Klosters. Fast 300 Jahre – von 1550 bis 1837 – war das Gelände ein landwirtschaftliches Lehnsgut mit dem Namen “Klosterhof“.
Nach 1837 erwarb die Kaufmannsfamilie Schnur das Grundstück mit Klausurflügel, Klosterhof und weiteren Gebäuden. In historischen Akten ist 1798 erstmals ein Branntweinmeister Schnur jun. nachgewiesen. Das legt die Vermutung nahe, dass bereits zu dieser Zeit auf einem anderen Standort eine Brennerei betrieben wurde. Nach dem Erwerb des Grundstücks nutzte man vermutlich ein bereits 1552 erwähntes „Gewerkshaus so vornam Kloster“ vor der Ostseite des Klausurflügels, welches zuletzt als Stall und Scheune diente, und errichtete eine Destillationsanlage mit angeschlossener Brennerei. Als das Gebäude zur Branntweinherstellung im September 1854 abbrannte, baute ein Angehöriger der Familie Schnur später das rotfarbene Klinkergebäude zur Herstellung von Branntwein und Essig sowie Likör.
Das unterkellerte zweigeschossige Haus mit Drempel und runden Mezzaninfenstern ist das erste ziegelsichtige Gebäude in der ansonsten aus Fachwerkhäusern und einzelnen Putzbauten bestehenden Stadt. Das in industrieller Architektursprache errichtete Gebäude mit Walmdach und gliedernden Zierbändern – teilweise als Zahnleiste – akzentuiert die Bauwerksecken durch auf Sandsteinsockel gesetzte Flankierungstürmchen, die ein typisches Gestaltungselement des Tudorstils sind. Das damals städtebaulich noch dominanter wirkende Gebäude – in der zu dieser Zeit meist noch niedrigeren Umgebungsbebauung – inspirierte möglicherweise den Landesinspektor Langen zwei Jahrzehnte später auch die Fassade des Rathauses im Tudorstil zu gestalten.
Diese, jetzt Großdestillation genannte Produktionsstätte, wird 1860 neu eröffnet und firmiert unter dem Namen „H. C. Schnur“, wobei H. C. für „HandelsCompanie“ steht. Ein halbes Jahrhundert besteht das Unternehmen am Standort, bis ein neuer Besitzer das florierende Gewerbe an die Ecke Pritzwalker/Wilsnacker Straße in Kyritz verlegt. Die Firma besteht unter verschiedenen Eigentümern und teilweise mehreren Gesellschaften bis 01.01.1953, wo die geplante Umschreibung als Einzelfirma auf Willy Klostermann nicht mehr zustande kommt, da diese verstaatlicht wird.
Der Stellmacher August Wietz erwirbt das Areal und verlagert die vom Vater gegründete Stellmacherei mit Wagen- und Kutschenbetrieb auf den Standort. Es entstehen Stellmacherwerkstatt, Polsterei und im Kesselhaus der ehemaligen Brennerei wird die Schmiede eingerichtet. Das großräumige Erdgeschoss der Alten Brennerei wird Verkaufs- und Ausstellungsraum für die in Spitzenzeiten bis zu 120 fabrikmäßig gebauten Pferdekutschen im Jahr. Die aufkommende Motorisierung, der 1. Weltkrieg und vor allem die Inflationsjahre 1928/29 führen zum Auslaufen der Kutschenproduktion. Der Betrieb wird auf Autoreparaturen umgestellt und es kommt eine Autowaschanlage und eine Tankstelle westlich des Hauptgebäudes hinzu. Gleichzeitig wird das Unternehmen Werksvertreter von „Ford“ (LKW), später auch „Borgwardt“ (PKW) sowie von Motorrädern für BMW, DKW und NSU, die auch auf dem Standort verkauft werden.
Nach dem Krieg ist das Unternehmen erst Vertragswerkstatt für die Personenwagen von DKW und für den F8 sowie später für den Wartburg 311 und den Trabant 500 sowie deren Nachfolgetypen. Aufgrund der mehr als 10 Beschäftigten wird die Firma in DDR-Zeit staatlicherseits als Industriebetrieb geführt. Im Zuge der Umwandlung von privaten Unternehmen in volkseigene Betriebe (VEB) oder die Bildung von Genossenschaften (PGH) erfolgt 1968 die Transformation in eine Produktionsgenossenschaft und 1983 die Verlagerung des Betriebes außerhalb der Altstadt.
Das Dienstleistungskombinat Kyritz (DLK) übernimmt den Standort und baut diesen für die Nutzung als Großwäscherei mit chemischer Reinigung um. Kunden sind nicht nur Privatpersonen und Betriebe, sondern auch die Garnisonen der in Wittstock und Neuruppin stationierten Roten Armee. Noch 1989 erfolgt die Privatisierung der Wäscherei. Mit den in den 2000er Jahren intensivierten Überlegungen zur Umgestaltung des Klosterviertels in einen Kulturstandort verbanden sich mehrere mehrfache Versuche der Betriebsverlagerung von dem historisch exponierten Standort und des Erwerbs des Grundstücks durch die Stadt. Aber erst die Stilllegung des Betriebes am 31.12.2014 ermöglichte die Umsetzung der Planung durch den Erwerb des Grundstücks.
Die Einordnung einer Bibliothek in ein stark überformtes und in schlechtem Bauzustand befindliches Gebäude erfordert tiefgreifende Erneuerungsmaßnahmen, insbesondere wenn es auf eine weitgehende bauzeitliche Fassadengestaltung zurückgeführt werden soll. Der Putz an Süd- und Ostfassade war zu entfernen und Fensteröffnungen in der historischen achsbezogenen Gliederung herzustellen. Die neue Nutzung stellt zusätzliche Anforderungen. Für die Schaffung der Barrierefreiheit ist ein außenliegender Aufzug vorzusehen und für die Nutzung des Kellers musste das Fußbodenniveau – verbunden mit einer schrittweisen Unterfangung des gesamten Gebäudefundamentes – ca. 50 cm abgesenkt werden. Mit der Neugestaltung entsteht eine großzügige Eingangshalle mit Servicetresen und es gibt eine Kinderbibliothek mit Familien- und Medienbereich, eine Regionalbibliothek sowie Räume für Belletristik und Fachliteratur und als wichtigen Kommunikationsstandort die Leselounge.
Damit kehren Bücher an einen Standort zurück, auf dem bereits im Mittelalter die größte Bücherdichte – nicht nur in der Stadt – bestand, denn die Klosterbibliothek muss nach überlieferten Erwähnungen beachtlich gewesen sein. Den nachreformatorischen Verlust kann die neue Bibliothek nicht ausgleichen, jedoch bildet sie einen neuen kulturellen Mittelpunkt, den alle nutzen können und gleichzeitig einen wesentlichen Baustein für das entstehende KulturlKlosterlKyritz.
Textautor: Rainer Lehmann, ews Stadtsanierungsgesellschaft